LOOKING – COUNTING ON EACH BOBBY PIN n°1
13. Juli 2022, Azize FeriziLOOKING – COUNTING ON EACH BOBBY PIN n°1
EIN TEXT VON AZIZE FERIZI MIT BILDERN VON KIM COUSSÉE
Meine Tanten und meine Mutter, die sich auf festliche Anlässe vorbereiteten, waren die erste sichtbare Erinnerung daran, wie sehr das äussere Erscheinungsbild von Bemühungen zeugen kann. In diesem kleinen Raum in Papaz, Kosovo, lernte ich, wie das Aussehen je nach Kontext eine Positionierung bedeuten kann. Als introspektiven Moment verbrachte ich Stunden vor meinen Spiegeln. Ich konnte leicht den Überblick darüber verlieren, wie die endgültige Ästhetik stundenlang zu einer nahezu perfekten Erscheinung verschmelzen würde. Während sich viele Menschen auf das Ergebnis konzentrieren, wurden wir durch den Prozess geformt. All diese ästhetischen Ratschläge und Kenntnisse werden zu Expertisen. Ich habe lange gebraucht, um ein Savoir-Faire zu erkennen, das in der westlichen Kultur nicht offiziell erwähnt oder anerkannt wird. Kein Wörterbuch, keine Archive, keine Bücher, kein Internet waren als Werkzeuge in diesem Prozess involviert, nur unsere Körper, Praktiken und Erinnerungen.
Osteuropäische Kulturen verwenden einen direkteren semiotischen Ansatz, um Bilder zu vermitteln. Was wir im Okzident als ästhetisch überladen empfinden, ist auf dem Balkan eine Form der Evidenz, jede Äusserung beschwört ein Bild herauf. Als Immigrant:innen sind unsere Vorstellungen von Ästhetik leichter in die Wahrnehmung und Weitergabe von Bildern abhängig von der Kultur integriert. All diese Fotografien, die über die Werbung von Friseursalons, Autowerkstätten und Hochzeitsrestaurants in Umlauf gebracht werden, stellen einen unerschöpflichen Fundus dar, der nie konserviert wird, sondern erneut erfasst werden soll. Ich musste mich auf die Suche nach all diesen verlorenen Schätzen begeben, so wie ich beim Frisieren nach Haarnadeln suche; ich weiß, dass sie überall im Haus verteilt sind; ich muss nur mein Gedächtnis anstrengen. Diese Bilder sind Partikel, die in unserem kollektiven Gedächtnis verstreut sind.
Die meisten dieser verstreuten Bilder wurden mittels Zeitschriften kreiert, die man in Friseursalons fand. Man wählte seinen Haarschnitt anhand der Fotos, die man darin entdeckte. Der Hauptzweck dieser Modelle, die mit verschiedenen Haarschnitten posierten, bestand darin, eine Palette von Möglichkeiten aufzuzeigen, aber in Wirklichkeit sagten sie viel mehr aus; eine ganze Ästhetik wurde so erschaffen.
Damals war das Friseurgeschäft eine Familienangelegenheit, und alle Geschäfte wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Vor einem Monat traf ich in Pristina, Kosovo, Alban Avdullahu, einen Friseur, den sein Vater in das Handwerk eingeführt hatte und der nun seinen eigenen Sohn ausbildet. Alban besitzt einen Salon in Pristina, den bereits sein Vater und sein Grossvater vor ihm in den vergangenen sieben Jahrzehnten geführt haben. Während sein Vater seinerzeit zahlreichen jugoslawischen Popstars die Haare stylte und schnitt, setz Alban die Tradition fort, indem er neue Frisuren entwirft und sicherstellt, dass seine Kund:innen mehr als nur einen Haarschnitt teilen.
Alban erzählte mir, dass es unter dem jugoslawischen Regime keine Friseurschulen gab und dass sich der Zugang zu Informationen über das Internet und die Medien von damals auf heute stark verändert hat. Alles hat sich in Bezug auf Ästhetik und Mode rasant entwickelt, ähnlich wie in den 1970er Jahren, als der Turbo-Folk die Balkan-Hauptstädte eroberte. Während heute übertriebene Frisuren, Pailletten, kitschige Klamotten und glitzernde Lippen angesagt sind, war Jugoslawien damals in der Stimmung für eine Cher-Frisur der 70er Jahre mit Seitenscheitel. Vergessen wir nicht, dass Amerika in erster Linie das Ziel hatte, die eigene Ästhetik zu verbreiten, aber die Kosovar:innen haben sie auf ihre eigene Art verdreht. Ob Musik, Film, Mode oder Essen – die Balkanländer haben ein starkes Gefühl für ihre eigene kulturelle Ästhetik. Ihre einzigartige Art und Weise, Gesten und Looks zu verbreiten, hat sich als Fundament der Gesellschaft bewährt. Über viele Jahre zahlten Friseur:innen in Teilen des Kosovos keine Steuern, weil Hair Styling als eine Art Grundrecht der Menschen angesehen wurde. Ästhetik war und ist auch heute noch ein kontroverses Thema in unserer Gesellschaft. Sängerinnen zum Beispiel waren immer die ersten, die neue "Looks" verbreiteten, denn es gab keine Modenschauen, sondern Modepräsentationen in Form von Videoclips. Die meisten meiner albanischen Altersgenoss:innen würden Ihnen von Adelina Ismajli erzählen, dem weiblichen Idol, das als Sängerin das Verhalten, die Mode, den Haarschnitt und das Make-up revolutionierte.
Ich fragte Alban und andere Hairstylist:innen nach Zeitschriftarchiven und Fotos, auf denen deutlich zu erkennen war, wie sich die Ästhetik im Laufe der Zeit transformierte, da ich wusste, dass der Balkan und insbesondere der Kosovo bedeutende kulturelle, politische und geografische Veränderungen durchlaufen hatten. Viele Aufzeichnungen, Fotografien und verwandte Ikonografien gingen jedoch nach dem Konflikt verloren oder wurden zerstört.
Aber eine der Publikationen, die meine Mutter im Salon las, blieb mir im Gedächtnis und ist zufällig in der Nationalbibliothek in Pristina archiviert: KOSOVARJA.
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