Wenn unsere Lebensräume unentbehrlich werden
12. Juni 2020, Anne-Outram Mott und Monique KellerInterview mit Natacha Guillaumont
Nachhaltig, bewusst zukunftsorientiert und dezentralisiert – die NEXPO stellt schweizweit die Frage nach dem Zusammenleben im 21. Jahrhundert. Die Frage der Lebensraumqualität – kürzlich durch den zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie eingeführten Halb-Lockdown auf die Probe gestellt – gewinnt mit der zunehmenden Verstädterung der Schweizer Regionen sowie der Klimakrise immer mehr an Aktualität. Es wird eines der Hauptthemen der neuen Landesausstellung sein.
Im Interview mit Natacha Guillaumont, Leiterin des Studiengangs Landschaftsarchitektur an der HEPIA Genf und Partnerin des NEXPO-Pilotprojekts «Nature urbaine», sprechen wir mit ihr über das, was sie mit den jungen Generationen teilen möchte, was die Covid-19-Krise aufzeigt und was der sinnbildliche Ort des Zusammenlebens von morgen sein könnte.
Während des Halb-Lockdowns in diesem Frühling erteilten Sie Ihren Studierenden, die ihre Feldstudien nicht vor Ort durchführen konnten, Fernunterricht. Gerade Ihnen ist das Eintauchen in die Landschaft besonders wichtig. Wie haben Sie den Ausnahmezustand erlebt?
Wie viele, denke ich! Die Anweisung zu Hause zu bleiben und im Homeoffice zu arbeiten, schien mir eine starke Einschränkung der Freiheit zu sein, eine besonders belastende Situation. Aber aufgrund meiner Arbeit habe ich das Glück, dass ich mich leicht an andere Orte, die ich mir vorstelle, projizieren kann – die Erinnerung an Lebensräume erlaubt es mir, die Landschaft in meine eigene innere Landschaft zu holen.
Meine Studierenden arbeiten an dieser Fähigkeit, aber sie leidet derzeit. Was sie belebt und inspiriert, ist die Möglichkeit, hinauszugehen, zu beobachten, gegenüberzustellen, zu spüren, zuzuhören, mit den Menschen, die darüber sprechen, im Austausch zu stehen. All diese Handlungen, die unsere Praxis ausmachen, fehlen uns.
Was ist unter dem Begriff der «Landschaft» zu verstehen?
Es gibt viele Definitionen des Begriffs Landschaft und auch Variationen je nach Sprache. Meiner Meinung nach beschreibt die Europäische Landschaftskonvention sie zu Recht als ein Gebiet, wie es vom Menschen wahrgenommen wird, und dessen Charakter sowohl das Ergebnis der Wirkung und Wechselwirkung von natürlichen und/oder menschlichen Faktoren ist.
Diese Definition bringt es auf den Punkt, weil man gut versteht, dass die Landschaft mit einer kulturellen und umfassenden Wahrnehmung verbunden ist. Von diesem Standpunkt aus gesehen war ich wahrscheinlich schon Landschaftsarchitektin, bevor ich eine geworden bin, denn ich habe nie versucht, die Objekte, aus denen ein Raum besteht, zu unterteilen oder zu dissoziieren. Es gibt nicht die Architektur oder die Gebäude auf der einen und Pflanzen, Himmel und Erde auf der anderen Seite. Mit der Landschaft zu arbeiten bedeutet, sich eines Ganzen bewusst zu sein, von dem wir ein Teil sind, egal in welchem Raum.
«Die Stadt ist notwendigerweise in der Landschaft, sie macht Landschaft, sie ist Landschaft.» Natacha Guillaumont
Auf dem Laufenden bleiben?
Abonniere unseren NewsletterDie Landschaften der Schweiz werden jedoch häufiger mit Seen und Bergen assoziiert als mit Städten.
Menschen, die in der Stadt leben, haben ebenso viel Landschaft wie in Alpentälern lebende Menschen oder die Inuit! Auch wenn ich die sinnbildliche Kraft bestimmter Landschaften verstehe, ergibt die Beschränkung der Landschaft auf ländliche Gegenden aus landschaftsarchitektonischer Sicht keinen Sinn: Die Stadt ist notwendigerweise in der Landschaft, sie macht Landschaft, sie ist Landschaft. Historisch gesehen ist die Frage der Landschaft nicht mit dem Vorhandensein von Naturelementen verbunden, sondern mit der mentalen Vorstellung, die man sich davon macht.
Die Frage, was Landschaft ist, muss immer dann geklärt werden, wenn man interdisziplinär arbeitet, zum Beispiel mit Fachleuten aus den Bereichen Stadtplanung, des Umweltschutzes oder der Raumplanung. Eine Verdrängung der Landschaft aus den Städten wäre für die städtische Qualität fatal.
Denken Sie, dass Krisen wie die Covid-19-Krise das Verhältnis zwischen Stadt und Land verändern?
Es ist noch zu früh, um das zu sagen, aber sicher ist, dass die Covid-Krise aufdeckt und verstärkt, was wir bereits kannten: den Wert, den wir unseren Lebensräumen beimessen. Wenn unsere Mobilität eingeschränkt wird, erhalten diese Orte eine enorme Bedeutung, ihre Qualität wird essenziell, ebenso die Frage der gemeinsamen Nutzung. Aber es gibt starke Ungleichheiten, und ein gut durchdachter Ort lässt sich in schwierigen Zeiten leichter einnehmen.
Ich denke zum Beispiel an Wohnbaugenossenschaften, die Korridore vorsehen, die geteilt werden und die sich hervorragend anpassen. Die Covid-Krise zeigt auch auf, dass wir nie aufhören dürfen, gemeinsam genutzte Orte zu bauen und sie in Frage zu stellen, denn die Erwartungen an sie ändern sich ebenso wie die bestehenden Nutzungen und Gleichgewichte, so dass das Teilen immer wieder neu erfunden werden muss. Gleichzeitig halte ich es für wichtig zu erkennen, dass wir von einem Ort nicht alles erwarten können. Es gibt Beziehungen innerhalb dessen, was das Leben ausmacht, seien es Menschen, Pflanzen oder Tiere, deren Gleichgewicht nicht ignoriert werden kann.
Das Gleiche gilt für städtische Räume wie Parks oder See- und Flussufer, aber auch für Waldgebiete, die übermässig beansprucht werden, teilweise auf schädliche Weise, aber die auch unentbehrlich geworden sind, wenn es darum geht, an die frische Luft zu kommen. Es ist möglich, vorauszuschauen.
«Der beste Weg einen Raum zu entdecken, besteht darin, vor Ort festzuhalten, was alle Lebewesen mit einem Raum verbindet, unabhängig davon, um was für einen Raum es sich handelt.» Natacha Guillaumont
Ist es diese Frage des Gleichgewichts, die Sie mit der neuen Generation von Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten in der Ausbildung zu teilen versuchen?
Auf jeden Fall. Es ist unerlässlich, alle Beziehungen zu verstehen, die an einem Ort eine Rolle spielen. Raum kann auf viele Arten verstanden werden. Es erscheint mir aber äusserst wichtig, dass wir lernen, Bauten und Verkehrswege ebenso wie die lebenden Systeme Wasser, Boden, Pflanzen und natürlich Menschen und Tiere wahrzunehmen.
Der beste Weg einen Raum zu entdecken, besteht darin, vor Ort festzuhalten, was alle Lebewesen mit einem Raum verbindet, unabhängig davon, um was für einen Raum es sich handelt. Ein grosser Teil der Pflanzenwelt bleibt übrigens noch zu erforschen, unsere Disziplin ist noch jung und hat eine äusserst reiche und anregende Zukunft vor sich!
Wie kann diese Neugierde für das Terrain in einer Welt bewahrt werden, die dem digitalen Fortschritt viel Aufmerksamkeit schenkt?
Unter den Studierenden der Landschaftsarchitektur ist das Interesse an Feldstudien zweifellos vorhanden, auch wenn es stimmt, dass die Bedeutung der digitalen Technologien in unserer Praxis erheblich zugenommen hat. Es gibt viele Vorteile, solange wir sie als ein Mittel und nicht als Selbstzweck betrachten. Wenn wir nur das Virtuelle wählen, dann haben wir keine Wahrnehmung des Ortes mehr und verlieren die Fähigkeit, als eine Art empfindliche Membran gegenüber der Realität zu fungieren.
Ich erinnere die Studierenden gerne daran, ihrer Intuition zu vertrauen und erfinderisch zu bleiben, denn das Grundprinzip alles Lebenden ist ein dynamischer Prozess. Wir müssen uns daher ständig anpassen und auf Veränderungen achten. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die wachsende Resonanz, die der Kampf gegen den Klimawandel, der die Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten schon seit mehreren Jahrzehnten beschäftigt, derzeit erfährt.
«Nature urbaine», das Pilotprojekt der NEXPO, an dem die HEPIA als Partnerin beteiligt ist, versucht ausgehend von der Landschaft über die Stadt von morgen nachzudenken. Wie ist das zu verstehen?
Es ist ein Ansatz, der das bestehende Paradigma umkehrt und sich auf die Qualitäten der Landschaft stützt, um über die Entwicklung eines Ortes nachzudenken. Städte haben sich mehrheitlich nach einem Kriterium der Funktionalität entwickelt. Das hat ganz bestimmte Räume erzeugt, wie zum Beispiel die Strassenverkehrsinfrastrukturen. Heute gibt es zwar wenig Handlungsspielraum, aber die Voraussetzungen werden umgekehrt, wenn man versucht, der Wasserqualität, der Erhaltung von Freiflächen oder auch einer schönen Aussicht Vorrang zu geben. Als historisches Beispiel mag Le Nôtre dienen.
Ausgehend von der Waldfläche und den Pflanzenformen, die er sich für den Schlosspark vorgestellt hatte, entwarf er die Stadtviertel von Versailles und veränderte das Stadtgefüge. Die Form eines Gartens erzeugte so eine Stadt.
Hier in Genf sind die durchdringenden Grünflächen aus dem Braillard-Plan ein sehr schönes Beispiel für Räume, die das Umland mit den Quartieren der Innenstadt verbinden. Sie schaffen biologische Kontinuitäten, welche die Stadt mit einem Netzwerk von Wäldern, landwirtschaftlichen Flächen und Wanderwegen, insbesondere entlang der Wasserwege, verbinden.
«Sei es für das Bau- oder das Naturerbe, wir müssen weiterhin das Prinzip der Dynamik beachten. Es besteht darin, zu erkennen und zu erhalten, aber auch, wenn nötig, neu zu erfinden.» Natacha Guillaumont
Nähern wir uns der «resilienten Stadt», wenn ihre landschaftlichen Qualitäten stärker berücksichtigt werden?
Resilienz ist ein Schlagwort, das ich lieber der Humanpsychologie überlasse. Wenn ich es genau betrachte, scheint mir der Begriff nicht geeignet zu sein, die Realität der Schweizer Städte wiederzugeben, vor allem weil er den Zusammenhang mit einem Trauma herstellt. Dabei ist die Stadt eine grossartige Lösung für das Zusammenleben und das Teilen von Lebensräumen! Für mich liegt das Problem eher beim Willen, einen Ort zu schützen, weil er schön ist oder weil seine lebenden Systeme im Gleichgewicht sind, mit dem damit verbundenen, nicht zu unterschätzenden Risiko, ihn erstarren zu lassen.
Sei es für das Bau- oder das Naturerbe, wir müssen weiterhin das Prinzip der Dynamik beachten. Es besteht darin, zu erkennen und zu erhalten, aber auch, wenn nötig, neu zu erfinden. Es wäre ebenso hinderlich, die Stadt als Trauma und die Natur als die einzige gute Lösung zu betrachten.
Wenn Sie sich ein Symbol für das Zusammenleben von morgen vorstellen sollten, wie würde das aussehen?
Bäume waren natürlich schon immer mächtige Symbole, zum Beispiel der Palaverbaum, unter dem sich eine Gruppe ausspricht, der Evolutionsbaum oder der Stammbaum. In Genf zum Beispiel bilden die Eiche und die Zeder ein Duo, das starke und zugleich eigenwillige Vorstellungen transportiert. Es gibt ein Bild, das mir ganz besonders gefällt: der Busch mit seiner bescheideneren Form. Es geht nicht mehr darum, eine Erhabenheit mit übergeordneten Ästen zu beurteilen, es ist vielmehr ein dichtes Gebilde, in dem alle Zweige das gleiche Potenzial haben. Ein Busch ist mehr «underground», weniger offensichtlich zu entschlüsseln, wahrscheinlich weniger einfach zu respektieren und dennoch enthält er eine gewaltige Energie.
Ein weiteres aussagekräftiges Symbol könnte das des Platzes sein. Der Raum, den wir anbieten oder den wir uns selbst geben, der Raum auch als öffentlicher Raum: öffentliche Plätze waren schon immer Orte der Begegnung und des Austauschs. Sie sind das Symbol schlechthin des Gemeinsamen, das niemandem alleine gehört, sondern allen zusammen!
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